Die Verunsicherung ist gross, die Chancen auch
Auch in Zeiten des "Physical Distancing" bleibt das sozialethische Institut «ethik22» seinem Auftrag treu, Raum für Dialog über Werte zu schaffen. Im ersten Internet-ethikCafé diskutierten 20 Personen das Thema «Bildung und Benachteiligung in Corona-Zeiten» online.
Zwanzig Personen aus verschiedenen Regionen der Schweiz, drei Ländern und zwei Kontinenten trafen sich am 2. April gegen Abend zum ersten i-ethikCafé online. Moderiert von Thomas Wallimann tauschten sich Gäste und Teilnehmende live mit Bild und Ton über Lernen und Lehren in Corona-Zeiten aus. Gesprächs-Gäste waren Benjamin Spycher, Studienleiter der Berner Fachhochschule, Antje Blöse, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache und Sibylle Wallimann, Gemeinderätin und Schulpräsidentin von Alpnach.
Krisenzeit als Chance
Wer schon vorher über digitales Lernen nachgedacht hatte, war vielleicht etwas bevorteilt, doch niemand hätte es wohl vor einem halben Jahr für möglich gehalten, dass Schülerinnen und Schüler ganzer Klassen und Schulen innert einer Woche die technische Ausrüstung haben und Hause lernen können. Viele Teilnehmenden berichten von gelungenen Situationen und Spass mit der eigenen Zeiteinteilung. Kinder oder Jugendliche können später aufstehen, brauchen oft weniger Zeit für das Lernen und sind gleichwohl engagiert dabei. Antje Blöse sowie die Teilnehmenden - Lehrkräfte und Eltern - staunen, wie diese Form des Lernens den individuellen Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern mehr Beachtung schenken kann.
Nicht ohne Computer
Die Technologie hat es den Schülern von der Grundschule bis zur Universität ermöglicht, in dieser raschen und lebensverändernden Zeit weiterzumachen. Antje Blöse berichtete jedoch, dass es nach wie vor Haushalte gibt, in denen keine Computer vorhanden sind. Besonders betroffen sind davon Familien mit Migrationshintergrund. So dauerte es an ihrer Schule zwei Wochen, bis alle ihre Schülerinnen und Schüler digital angeschlossen waren.
Auch gibt bei den Kindern, wie sie anmerkte, grosse Unterschiede, wie sie mit dem Distanzlernen zurechtkommen. Neben den digitalen Möglichkeiten geht es aber auch darum, ob die Eltern den Kindern eine Struktur geben und sie beim Lernen von Zuhause aus unterstützen können. Die Eltern unter den Teilnehmenden des i-ethikCafés berichteten einstimmig, dass sie dafür viel Zeit aufwenden. Dies trifft insbesondere auch dort zu, wo nun die Hilfe der Grosseltern ausfällt. Es wurde spürbar, dass dies ein Privileg und ein Glück ist, wenn Eltern genügend Flexibilität für diese Aufgabe haben.
Geforderte Eltern
Wo Eltern auch in dieser Krisenzeit arbeiten müssen, haben Kinder diese Chance meist nicht. Nicolas, Oberstufenlehrer aus dem Wallis, berichtete, dass er bei seinen Schülern beobachte, wie sich die Schere zwischen jenen, die aus einem besser gestellten Haushalt kommen, und den anderen, zunehmend öffne. Aber es ist auch schwieriger, die Reaktionen von Schülern einzuschätzen. Ist die Anfrage eines Schülers um Mitternacht Ausdruck seiner selbstgewählten Lernzeit oder Ausdruck, dass ihn die Eltern erst jetzt an die Aufgaben erinnern.
Schooling at home ist nicht Homeschooling
Sibylle Wallimann betonte, dass es aus Sicht der Schulbehörden nicht um «Homeschooling» geht, wo die Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten, sondern um «Schooling at Home», also "Schule zu Hause", und die Lehrpersonen die Kinder auf Distanz unterrichten. Wichtig ist hier eine klare und eindeutige Kommunikation von Behörden, Schulleitungen und Lehrpersonen.
Sehnsucht nach "normalem" Unterricht
Als er am Freitagnachmittag die Nachricht erhielt, ab Montag finde der Unterricht auf Distanz statt, war Nicolas – wie er erzählte – vorerst überrumpelt. Die Schülerinnen und Schüler hingegen jubelten und riefen «Juhui, jetzt haben wir Ferien.» Doch sie merkten schnell, dass die Schule Zuhause weitergeht. Als Nicolas jeder Schülerin und jedem Schüler telefonierte und nach dem Wohlergehen fragte, erzählten sie, dass sie die Schule, ihre Freunde und die Lehrpersonen vermissen.
Laut anderen Teilnehmenden wünschen sich vor allem auch Schüler und Studierende, die vor Abschlussprüfungen stehen, Normalität. Unsicher, wie und ob Prüfungen stattfinden und was danach folgt, müssen sie unter erschwerten Bedingungen lernen.
Auch für Lehrgangsverantwortliche sieht Normalität anders aus. Benjamin Spycher leitet einen CAS-Studiengang, der im Kern auf Präsenzunterricht baut und Spielsequenzen beinhaltet. Solches lässt sich nicht einfach über Videokonferenzen und Lektüre ausgleichen. Zudem verursacht der Ausfall dieser Sequenzen auch Lohnausfälle bei Dozierenden, die auf diese Einkünfte angewiesen sind.
Unsichtbares wird sichtbar
Mehrere Teilnehmende betonten, wie im Moment Schule und Lehrpersonen gesellschaftlich an Aufwertung gewinnen. Plötzlich wird spürbar, welch grossen Beitrag die Schule, aber auch z.B. Eltern und Grosseltern leisten, damit Kinder und Jugendliche gut gebildet und erzogen sind. Im Fall von Universität und Fachhochschule, zeigt sich der Wert der Mitstudierenden. Eine Gruppe Studierende (Engineering, Architektur und Kunst), die am i-ethikCafé teilnahm, berichtete, wie sie sich in ein Ferienhaus zurückgezogen haben, um zu lernen und einander zu unterstützen.
Viele der Teilnehmenden berichten auch von Schwierigkeiten. Die Vielfalt von Schulfächern ist eingeschränkt, andere Fächer fallen komplett aus, ebenso ausserschulischen Aktivitäten wie Sport, Musik, Theater und Kunst. Die Diskussion zeigt, wie vielfältig Bildung wirklich ist, und dass Wissensvermittlung nur einen Teil davon ausmacht. Auch sind sich alle einig, dass diese Situation zeigt, wie wichtig Kontakte und Zeit für einander im Bildungs- Prozess sowie im Leben allgemein sind. Interessant ist die Beobachtung, dass jetzt deutlich sichtbar wird, wie unterschiedlich Menschen – ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – lernen; und dass diese Krisenzeit für einmal introvertierte Lernende bevorteilt.
Sibylle Wallimann erinnert noch an etwas, was gern vergessen geht. Auch wenn die meisten Kinder die digitalen Tools technisch beherrschen, heisst dies noch lange nicht, dass sie diese auch sinnvoll und zur Erledigung von Aufgaben nutzen können. Hier sind Kinder auf Begleitung und Bildung für den richtigen Umgang mit Kommunikations-Technologie angewiesen. Einiges, was sich darum jetzt in dieser "Corona-Zeit" bewährt, wird gewiss in die zukünftige Schule einfliessen. Dass dies aber nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft nicht ohne Kosten zu haben ist, ruft Gemeinderätin Sibylle Wallimann in Erinnerung.
Krisenzeit als Chance für die Zukunft
Die Schlussrunde zeigt: die Zukunft darf von dieser "Corona-Zeit" lernen. Es bleiben aber auch offene Fragen. Weil jetzt deutlich wird, dass Schule weit mehr als Wissensvermittlung ist, lässt sich auch anders über die Form der Schule und des Lehrens nachdenken. Wie kann etwa die soziale Dimension des Lernens in der Schule beim Lernen zu Hause schon jetzt kurzfristig integriert werden? Und wie können wir als Gesellschaft auf längere Sicht die soziale und kulturelle Funktion von Bildung stärken und mehr wertschätzen?
Digitalisierung ist unbestritten eine grosse Hilfe und bietet – so eine Teilnehmerin - wertvolle Möglichkeiten inklusiv sozialer Kontakt. Doch technologische unterstützte Kontakte ersetzen nicht alles. Ob dies mit der Entwicklung von 3D-Brillen anders wird, wirft ein Teilnehmer ein, und fragt sich, welche Entwicklungen hier noch auf uns zukommen.
Die Freiheit, Lernen selber zu gestalten, ist ein Teil der jetzigen Erfahrung. Wie können wir diese individualisierte Art von Lernen in künftiges Lehren und Lernen einbauen? Und wie können wir die Technologie, die uns zur Verfügung steht, besser nutzen und optimieren, um die Flexibilität und den Erfolg des Bildungssystems zu erhöhen?
Etwas ganz anderes bleibt aber bei diesem ersten i-ethikCafé auch in Erinnerung: Es braucht wieder ein ethikCafé mit Älplermagronä, Wein und Café! Gleichwohl waren sich alle einig, , dass diese Art von Austausch und Diskussion neue Möglichkeiten von Kommunikation und Beziehungspflege schafft – gerade auch für jene, die nicht einfach so zum ethikCafé nach Zürich oder Luzern kommen können.
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